Hassan fastet sich durch den Ramadan

Seit Jahren wollte Schüler Hassan den Ramadan einhalten. Jetzt kann sich der 16-Jährige in der Schule vor Hunger und Müdigkeit kaum konzentrieren. Doch das ist nicht das größte Problem - denn da ist noch die Sache mit den Schimpfwörtern.
"Die meisten muslimischen Jugendlichen fangen mit dem Ramadan zwischen 14 und 16 an. Und eigentlich wollte ich auch schon letztes Jahr mitmachen, aber meine älteren Cousins haben gesagt, ich soll's lassen: 'Du bist noch zu jung, das hältst du noch nicht durch', haben sie gesagt. Ich habe auf sie gehört.
Dieses Jahr bin ich 16 geworden, fühle mich jetzt kräftig genug. Und deshalb mache ich jetzt auch zum ersten Mal Ramadan, seit dem 21. August: Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang darf ich absolut nichts essen, absolut nichts trinken, keinen Krümel, keinen einzigen Tropfen.
Da sich Sonnenaufgang und Sonnenuntergang von Tag zu Tag verschieben, verschiebt sich auch die Zeit, die ich verzichte. Deshalb ist es wichtig, jeden Tag neu zu gucken: Wann geht die Sonne auf? Wann geht sie unter?
Wir haben uns einen Zeitplan aus einer Moschee geholt, denn es kommt auf jede Minute an: Wenn ich nach einem Fastentag auch nur eine Minute zu früh wieder esse oder trinke, war der ganze Fastentag umsonst. Das wäre für mich eine kleine Katastrophe.
Ein Ramadan-Tag ist hart. Anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang dürfen wir die letzte Mahlzeit zu uns nehmen. Deshalb stehe ich im Moment mitten in der Nacht mit meiner Familie auf, um noch was zu essen. Letzte Nacht saßen wir um vier Uhr früh am Küchentisch, durften bis fünf vor fünf essen. Wir sprechen zuerst zusammen ein Tischgebet. Dann essen wir zum Beispiel Linsensuppe, oder Rührei mit Tomaten und Paprika. Oder die leckere selbstgemachte Duftrosenmarmelade meiner Mutter. Wenn wir fertig sind, sprechen wir wieder ein Gebet.
Nach dem Gebet lege ich mich wieder hin. Um 7 Uhr stehe ich wieder auf und gehe zur Schule. Ich mache, was ich sonst auch mache: Unterricht bis 14 Uhr, danach nach Hause, Hausaufgaben. Nachmittags treffe ich mich mit Freunden, gehe Fußballspielen. Alles im Moment mit halber Kraft. Aber das zu erfahren hat seinen Sinn.
Denn der Ramadan zieht negative Gefühle und negative Gedanken aus dem Körper. Je mehr ich hungere, desto mehr empfinde ich nach, wie hungernde Menschen sich fühlen, wie sie leiden. Und durch dieses Nachempfinden baue ich Mitgefühl auf. Mitgefühl ist ein gutes Gefühl.
Klar habe ich tierischen Hunger tagsüber. Der Hunger ist anstrengend. Aber die Anstrengung entspannt ab einem bestimmten Punkt.
Man sollte meinen, man wird aggressiv, wenn man Hunger hat, aber es ist das genaue Gegenteil. Ich bin nicht so aggressiv wie sonst. Ich bin freundlicher, höflicher, weil ich mich so viel ruhiger fühle. Vielleicht auch, weil ich versuche, mich an die Vorgaben zu halten: dass man im Ramadan möglichst keine Schimpfwörter in den Mund nimmt.
In der Schule ist das nicht so einfach. Es ist hart, wenn meine Mitschüler vor mir in der Pause essen. In den ersten zwei, drei Tagen hatte ich starke Kopfschmerzen und habe nach der Schule bis abends geschlafen. Ich dachte, ich halte es nicht durch. Aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr merke ich, wie stark ich bin, was ich schaffe, wenn ich wirklich will.
Wenn die Sonne untergegangen ist, fangen wir an zu essen. Das sind Weintraubenblätter mit Hackfleisch gefüllt oder weiße Bohnen mit Rindfleisch. Der erste Bissen ist der Hammer! Ich esse dann ganz viel, ganz schnell, so schnell, dass ich Bauchschmerzen kriege. Diese tiefe Freude am abendlichen Essen ist kein Widerspruch zum Verzicht.
Wir dürfen uns ruhig so freuen, denn Freude beruht auf Freude, Hoffnung gibt Kraft zu leben, und mit dieser Kraft können wir den nächsten Tag durchhalten.
Die abendlichen Essen sind immer wie kleine Feste, zu denen wir auch Bekannte und Freunde einladen.
Das alles fühlt sich besonders an und macht mir Lust, den Ramadan bis zum Ende durchzustehen. Meine Mutter hat zu mir gesagt, ich soll mich nicht zwingen, wenn ich merke, dass ich mich in der Schule nicht mehr konzentrieren kann. Aber ich habe zu ihr gesagt: 'Ich mach' keine halben Sachen. Jetzt habe ich das angefangen, jetzt ziehe ich's auch durch.'"

(Spiegel Online, 15. September 2009)

fasten – дотримуватись посту
einhalten – дотримуватись
der Krümel – хлібна крихта
verschieben – переносити
die Moschee – мечеть
die Linsensuppe – суп з чечевиці
die Duftrosenmarmelade – мармелад з троянди
das Nachempfinden – співчуття, переживання, емоція
die Vorgabe – перевага
das Hackfleisch – фарш
der Widerspruch – протест, протиріччя

Остання зміна: Sunday 17 March 2013 10:47 PM