Sieben Tage ohne Fernsehen, Radio und Zeitungen

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Können wir überhaupt noch ohne Nachrichten leben? Keine Zeitungen, kein TV, kein Radio – am besten: gar keine Medien. Tobias Heller war zuletzt TV-Journalist bei einem Nachrichtensender. Jetzt arbeitet er als freier Autor in Berlin. Hier ist sein Erfahrungsbericht vom Entzug.

Die Krise kam schon am Abend des ersten Tages. Die Tagesschau um 20 Uhr hatte ich noch ungesehen verstreichen lassen, doch wenig später wurde ich unruhig, ziemlich unruhig. Die Fernbedienung trug ich wie einen Fetisch durch meine Wohnung. Um mich abzulenken, sah ich durch das Fenster nach draußen. Aus vielen Wohnungen auf der anderen Seite meines Berliner Hinterhofes drang das charakteristische blaue Flimmern der Fernseher. Die, die da saßen, wussten Bescheid, ich wusste es nicht.

Bevor es losging, hatte ich mir den Medienentzug eher einfach vorgestellt. Schon weil ich momentan keinen Job habe, für den ich unbedingt auf dem neuesten Stand sein muss. Doch nun umkreiste ich schon seit einer Stunde den Fernsehapparat. Das hatte natürlich einen besonderen Grund: Ich erwartete Freunde aus dem Urlaub zurück. Spätestens um 19 Uhr hätten sie in ihrer Wohnung sein sollen. Als ich dort vorbeischaute, waren die Fenster allerdings dunkel. Und auf ihren Handys meldeten sich nur die Anrufbeantworter. Das ist normalerweise kein Grund, in Panik zu verfallen, Flugzeuge verspäten sich eben gelegentlich. Aber: Sie hatten ihren Urlaub in Ägypten verbracht. Aus Ägypten! Mit dem Flugzeug! Der dunkle Fernseher erzeugte in meinem Kopf ein weißes Rauschen, das immer schlimmere Schreckensbilder anzog.

 Als ich um 21 Uhr endlich den Fernseher einschaltete, war ich daher auf alles gefasst: das Skript für die Katastrophe hatte ich schon im Kopf - wie jeder geübte Zuschauer. Doch nichts davon war zu sehen. Stattdessen Condoleezza Rice in Ramallah und die Ankündigung weiterer Schneefälle. Wenig später kam auch der Anruf: Das Flugzeug hatte eine Zwischenlandung in München. Meine Freunde waren am Leben. Sie hatten sich nicht in Nachrichten verwandelt.

Die folgenden Tage verliefen ruhiger, vor weiteren Gewissenskonflikten blieb ich verschont. Dafür verfiel ich in eine Art Verfolgungswahn. Überall fühlte ich mich Newspartikeln ausgesetzt. Sie rieselten in Cafés und U-Bahnen aus Monitoren, krochen in Geschäften und Ladenpassagen durch Lautsprecheranlagen, sprangen mir auf der Straße aus Schaufenstern entgegen. Nicht einmal die Startseite meines Emailanbieters konnte ich aufrufen, ohne in Gefahr zu laufen, informiert zu werden.

Bei Gesprächen mit Bekannten, die von meinem Entzug wussten, kam ich mir vor, als hätte ich eine unheilbare Krankheit. Ich sah ihnen an, dass ihnen etwas auf der Zunge lag - sie wagten aber nicht, es auszusprechen. Doch nicht alle konnten sich beherrschen, manch einem rutschte nach dem dritten Bier etwas heraus.

 Drei Tage vor dem Ende der Nachrichtensperre wurde es wieder ernst. Auf dem Weg zur U-Bahn hatte sich an einem Kiosk ein Zeitungstitelblatt in mein Sichtfeld geschlichen. "Nordkorea erklärt sich zur Atommacht", warnte die Schlagzeile. Sollte ich mir nun Sorgen machen? Über eine übereilte Reaktion der Amerikaner etwa? In der U-Bahn begann ich deshalb, die Gesichter der Fahrgäste zu studieren. War ihnen etwas anzumerken? Dabei musste ich an den 11. September 2001 denken. Damals hatte ich einen Job bei einem Nachrichtensender und war deshalb von Anfang an dabei, als die Live-Übertragung vom World Trade Center lief. Auf dem Nachhauseweg starrte ich dann die Passanten unverhohlen an. Wer weiß es schon, wollte ich wissen, wer hat es gesehen? Doch schon damals blieben mir die Gesichter eine Antwort schuldig.

Die sollte mir dann am Sonntag - ich war wieder Teil der Medienwelt - der neue "Spiegel" geben. Auf dem Titelblatt grinste Kim Jong II, "der Irre mit der Bombe", hinter ihm wuchs ein Atompilz in die Höhe. Ein kurzer Blick ins Inhaltsverzeichnis wirkte ernüchternd. Zumindest die "Spiegel"-Welt war die alte geblieben. Ich warf das Heft in die Ecke und verlängerte meinen Entzug freiwillig um einen weiteren Tag.

„fluter“

 der Entzug, -( e)s, -züge позбавлення

der Fetisch, -es, -e фетиш

Bescheid wissen бути в курсі справи

die Zwischenlandung, =, -en проміжна посадка

verschonen шкодувати, жаліти

der Verfolgungswahn, -( e)s манія переслідування

aussetzen (D) наражати

News (англ) новини

die Lautsprecheranlage, =, -n динамік

vorkommen (D) здаватися

die Nachrichtensperre, =, -n заборона на інформацію

warnen застерігати

das World Trade Center ['sentər] -s, = Всесвітній торговий центр

unverhohlen неприхований

eine Antwort schuldig bleiben не дати відповіді

der "Spiegel" нім. журнал

der  (die) Irre, sub божевільний

Остання зміна: Friday 10 May 2013 3:57 PM