Lars isst an der Armutsgrenze

Kurz vor Mitternacht isst Lars Ippich die letzte Pizza, danach hat er für so einen Luxus kein Geld mehr. Fünf Tage lang hungert er und gibt nur 1,20 Euro für Essen aus. Für eine Spendenaktion erlebt er, was Armut bedeutet.
"Man nimmt 200 Milliliter Milch, 100 Gramm Haferflocken, 200 Gramm Banane und fertig ist das Frühstück für exakt 0,39 Euro. Den ganzen Tag steht diese Pampe rum. Probiere ich einen Löffel und will nichts mehr davon essen. Ich muss dringend schauen, wie ich aus den Zutaten das Beste mache - denn andere will ich diese Woche nicht verwenden.
Ich mache beim Projekt 'Live Below the Line' mit und darf in fünf Tagen sechs Euro für Essen ausgeben. Fünf Tage essen an der Armutsgrenze machen zwar keinen besseren Menschen aus mir, ich sammle zwar in der Zeit Spenden, bekämpfe aber nicht aktiv Leid. Aber ich erlebe ein bisschen von dem, was Arme durchmachen.
1,20 Euro pro Tag, davon muss ich satt werden. Ich vergleiche Supermarktpreise und erstelle eine Tabelle. Was brauche ich wirklich? Auf Milch will ich morgens nicht verzichten, Kohlenhydrate in Form von Nudeln und Haferflocken sind zum Glück günstig. Abends soll es Linseneintopf aus der Dose geben. Soweit der Plan. Dass allein schon die Möglichkeit, im Supermarkt zu vergleichen und auszuwählen, ignoriere ich. Wichtig ist auch, dass ich am Ende keine Lebensmittel übrig habe. Deswegen kaufe ich keine Großpackungen, auch wenn der Grundpreis günstiger ist. Schließlich könnten mir die paar Cent am Ende für andere Dinge fehlen.
Beim Einkaufen habe ich mir Käse gegönnt. Ich lasse ihn mir für genau einkalkulierte 1,25 Euro abwiegen - das Gesicht der Frau hinter der Käsetheke werde ich wohl nie vergessen. Als Snack für zwischendurch streue ich mir Zucker aufs Toast. Das ersetzt zwar keine Schokolade, ist aber nicht so schlimm.
Das Projekt ist vor einem Jahr in Australien gestartet. Über das Internet unterstützen meine australischen Freunde und ich uns gegenseitig beim Durchhalten. In meinem Auslandsjahr in Australien habe ich erlebt, dass es dort viel mehr Bereitschaft gibt, anderen zu helfen. Meine Eltern fragen mich zwar interessiert nach dem Projekt, wollen selbst aber nicht mitmachen.
Der Kühlschrank ist seit Montag wirklich von unschätzbarem Wert. Käse, Milch und die angebrochene Linseneintopf-Konserve könnte ich mir ohne ihn nicht über fünf Tage einteilen.
Ich bin froh, dass der Abistress schon hinter mir liegt. Denn auch wenn ich nicht richtig hungrig bin, denkt irgendetwas in mir ständig an Essen und blockiert alle Gedanken. Außerdem ist die Zubereitung von meinen Mittagessen viel zeitaufwendiger, als mir eine Pizza in den Ofen zu schieben - wie ich es kurz vor Beginn des Projekts noch getan habe.
Überall bin ich von Essen umgeben. Ich sehe Leute essen oder höre sie übers Essen reden. Jemanden Cola trinken zu sehen, ist das Schlimmste. Ich darf nur Leitungswasser unbegrenzt trinken, schließlich sollen wir Teilnehmer keine gesundheitlichen Schäden davontragen.
Im Kopf schreibe ich mir eine Liste mit allem, was ich nach den fünf Tagen sofort essen werde. Es ist wie beim Abnehmen.
Freitag werde ich schwach. Oder besser: vergesslich. Auf einem Lehrgang vom Roten Kreuz sitzen wir in großer Runde, eine TicTac-Packung geht rum und ich nehme mir arglos eins. Als ich es noch zwischen meinen Zähnen zerkaue, fällt es mir wieder ein. Zur Aktion gehört, auch kein geschenktes Essen anzunehmen. Ich ärgere mich, meinem Anspruch an mich selbst doch nicht hundertprozentig gerecht geworden zu sein.
Bald fange ich an, die Stunden zu zählen. Am späten Abend starte ich einen Hamsterkauf: Haribo, Schokolade, ich nehme alles mit. Via Twitter verbreite ich meinen persönlichen Countdown. Noch drei Stunden. Eine Minute nach Mitternacht poste ich endlich mit vollem Mund: 'Schokolade! Ich hab Schokolade!'"
(Spiegel Online, 27. Mai 2011)

die Haferflocken – вівсяні пластівці
die Pampe – каша
das Spenden – пожертва, дарування
durchmachen -  пройти, пережити, перенести
erstellen – виговити, розробити
die Kohlenhydrate - вуглеводи
der Linseneintopf – густий суп з чечевиці
der Grundpreis – основна ціна
einkalkulierte - зараховувати
abwiegen – зважувати, обдумувати
streuen – сипати, розсипати
das Durchhalten – стійкість, витримка
angebrochen – початий, пошкоджений
zeitaufwendig – вимагає багато часу
Schäden davontragen – зазнати шкоди
der Lehrgang – навчальний процес
zerkauen - розжовувати
der Hamsterkauf – скупляння продуктів
via Twitter – через твіттер
der das Countdown – зворотній рахунок

Остання зміна: Sunday 17 March 2013 11:33 PM